GRENZENSPIE[ge]L
In diesem Jahr habe ich in drei Ländern gelebt: 4 Monate in den USA; 3 Monate in der Ukraine, 4 Monate in Deutschland. Drei Ländern, drei Kulturen, drei Sprachen. Vier Monate in München ist eine sehr kurze Zeitspanne, und gleichzeitig ist es ein ganzes Leben. München bewahrt in ihrer Erinnerung hunderte von Geschichten. Von meiner Bekanntschaft mit München habe ich ursprünglich erwartet, dass sie sehr kurz sein würde. Und als ich diesen kraftvollen bayerischen Löwen getroffen habe, fragte ich mich selbst, ob ich in dieser kurzen Zeit in ihr Geheimnis eindringen könnte? Es gibt viele halbtransparente Schichten in München, so viele wie in den Gemälden der Alten Meistern in der Alten Pinakothek. Wenn sie einander überlappen, ertönen sie mit besonderer Tiefe und Ausstrahlung.
Die blauen Brunnen, wie die Glockenblumen, schmücken klangvoll die Stadt; die schmachtende Sommerluft umarmt dieses München, und sie atmet mit der Wärme, wie ein schlafender Hund, wenn man eine Hand auf seinen Bauch legt. Der bayerische Abend riecht süß, so wie eine handvoll reifer Kirschen; und die Isar läuft streifenförmig schnell. Der Fluss hat die Zeit in sich selbst versteckt. Er ist immer ständig und immer variabel. Die Spiegelungen im Wasser sind wie die Spiegelungen in der Zeit. Das menschliche Gedächtnis, wie das Wasser, wäscht die Flächen und absorbiert die unnötigen Details. Der ins Wasser eingetauchte Körper verändert seine visuelle Identität. Die transparente Schicht des Wassers verletzt unsere gewohnten Vorstellungen der menschlichen Form. Wenn man genau hinsieht, werden die zuvor leicht zu erkennenden Teile in neue ungewohnte Elementen verwandelt. Und plötzlich entfalten sich kosmische Landschaften statt der bloßen Haut, wie ein Echo anderer Welten. Das Wasser wird auch eine Art Teleskop, es öffnet eine Geheimtür in die Mikrokosmen täglicher Routine. Wenn ich den menschlichen Körper unter Wasser sehe, bin ich an das unendliche Universum erinnert. Eine junge Philosophin, eine Freundin von mir, Maxine Krenzel, hat es in ihrem Brief zu mir so geschrieben: “Infinity lies within and around us at all times. It is at the root of all our internal systems, the atomic makeup of our bodies, and is also the structure of all that is beyond us, the infinite space of the ever expanding cosmos” Außerhalb von uns ist die Unendlichkeit, in uns ist die Unendlichkeit, und dazwischen ist die Grenze. Der menschliche Körper ist unsere wichtigste Grenze. Es ist eine physische Grenze, folglich ist sie unbeständig. Die Frage des Menschens ist: Wie lernt man diese Grenze zu überqueren, und wie schafft man eine Verbindung zwischen den Unendlichkeiten? Um die Grenze seiner Welt zu überqueren, braucht der Mensch eine Sprache. Hier, in München, studiere ich die Welt durch die Kultur der deutschen Sprache, und deshalb erzähle ich über meine Beobachtungen mit den Farben meiner Malerei. Marcel Duchamp hat so über München gesagt "Der Aufenthalt in München war der Ort meiner völligen Befreiung" (1). Das Gleiche kann ich für mich sagen. In eine neue Sprache einzutauchen ist für mich immer ein berauschendes Gefühl. Die Verbindung mit der Realität geht verloren. Plötzlich wirst du von einer dichten Masse von nicht vollständigen Strukturen und Klängen umgegeben, und es ist unterhaltsam, durch dieses neue Meer zu schwimmen, und meinen Weg dadurch zeichnen. In jeder neuen Sprache gibt es eine interessante Möglichkeit ihre doppelte Natur zu beobachten: die Sprache als das Zeichensystem und die Sprache als Klangreihe. Vor 101 Jahren hat Wassily Kandinksy in München geschrieben: “... rechts liegt das vollständig abstrakte, ganz emanzipierte Anwenden der Farbe in “geometrischer” Form ..., links das mehr reale, zu stark von äußeren Formen gelähmte Gebrauchen der Farbe in “körperlicher” Form … Hinter diesen Grenzen ... liegt rechts: die reine Abstraktion ... und links reine Realistik ... Und zwischen denselben - grenzenlose Freiheit, Tiefe, Breite, Reichtum der Möglichkeiten...” (2) In GRENZENSPIE[ge]L male ich auf realistischen Weise einfache Elemente, das Wasser und der Körper, aber ich male sie so, dass diese Elemente eine zweite, abstrakte Schicht erwerben. Endlich können die Gemälde auf zwei Ebenen gelesen werden. Balancierend am Rande der Abstraktion und des Realismus, erzähle ich vielschichtige Geschichten, inspiriert von den Straßen von München und der Strömung der Isar. Darya Tsymbalyuk, München 2012 (1) Marcel Duchamp, http://www.lenbachhaus.de/cms/index.php?id=51&cHash=4063f89c3ab80357d88c9c755d5677cb&tx_ttnews[tt_news]=184&tx_ttnews[backPid]=1 (2) Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst (Benteli Verlag Bern, 1957), 127. |
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